Wir begeben uns heute auf eine Zeitreise. Sie beginnt in einem mittelalterlichen Freilichtmuseum in Nykøbing, wo wir auf einen Urahnen meines Rollstuhls treffen, bevor uns eine Schar Gänse über Stock und Stein davonjagt. Die Zeitreise endet in einem hochmodernen Kopenhagener Restaurant, wo wir den Hungertod fürchten lernen.

Der fünfte Tag beginnt damit, dass wir offene Rechnungen begleichen: Wir checken aus und treffen auf die dubiose Rezeptionistin, die uns am Tag zuvor so schamlos angeflunkert hat. Wir zahlen für die Zimmer und schauen ihr genau auf die Finger, als wir ihr die Kreditkarte reichen. Als sie fragt, wie uns der Aufenthalt gefallen hat, zucken wir nicht mit der Wimper und erwidern, dass wir vor allem die vielfältige lokale Gastronomie schätzen gelernt hätten.

Schnüpi hat ein Ausflugsziel gegoogelt: Ein Freilichtmuseum, wo man ein authentisches dänisches Dorf aus dem Mittelalter nachgebaut hat. Wir fragen die Rezeptionistin nach dem Dorf, und sie sagt prompt: „Oh, ich glaube, die haben Montags geschlossen.“

Wir beschließen, unser Glück trotzdem zu versuchen und fahren durch das plötzlich sehr belebte Nykøbing. Am Sonntag haben wir noch spekuliert, ob das eine dieser aussterbenden Kleinstädte ist, wo alle Jungen wegziehen, doch heute wimmelt es nur so vor Dänen. Wir erreichen das Mittelalterdorf – und es hat geöffnet!

Die Museumsleitung meint es ernst mit der authentischen Wirkung: Keine Texttafeln stehen bei den Gebäuden, nirgends sind Plastik oder andere neuzeitliche Fremdkörper zu sehen. Die Mitarbeiter sind ausnahmslos in alte Trachten gekleidet und tragen Helme, Hüte oder Hauben.

Wir sind restlos begeistert und kaufen der guten Marktfrau vom Bild den halben Laden leer. Wir erhalten von ihr Sauerteigbrot und Hartwurst, was sie beides in einen zerfledderten Stofflappen wickelt. Dem Gesundheitsamt würde das zwar gar nicht schmecken, uns dafür umso mehr.

Es gibt hier für jeden etwas Tolles zu entdecken: Flow fotografiert aus allen denkbaren Perspektiven einen alten Kräutergarten, Schnüpi stößt auf eine edel bemalte Truhe und ich bewundere die nachgebauten Trébuchets – eine besondere Form von Katapult:

Der Boden ist teils mit Kies, teils mit grobem Pflaster bedeckt, sodass ich nur schleppend vorwärts komme. Dies gibt uns aber die Chance, Dinge zu würdigen, die wir sonst gedankenlos passieren würden. Hinter einer Scheune entdecken wir eine Schubkarre mit Rückenlehne, die vielleicht sowas wie die mittelalterliche Ausgabe eines Rollstuhls darstellt. Und das offene Klosett daneben ist die historische Variante eines Rolli-WCs. Man fühlt sich darin zwar etwas exponiert, dafür hat man durch die fehlende Wand mehr Platz als auf dem Rolli-WC am Luzerner Hauptbahnhof. (Leider kein Witz.)

Wir vergessen völlig, dass wir heute noch nach Kopenhagen wollen. Flow dreht mit der Kamera alleine eine Runde, während Schnüpi von einem Waidmann im Bogenschießen unterrichtet wird. An einem idyllischen See erhält sie von einem Händler eine Führung durch sein Herrenhaus, während ich draußen bei den Gänsen warte. Das geht eine Weile gut, bis mich die Leitgans irgendwann als Eindringling empfindet. Hui, diese Viecher sind schnell – auf dem Untergrund jedenfalls schneller als ich. Bevor sie meine Reifen in Stücke reißen, erscheint dann aber Flow als edler Retter.

Am frühen Abend fahren wir nach Kopenhagen. Wir inspizieren die recht klein wirkenden Hotelzimmer nicht besonders gründlich, denn wir haben Hunger! Es folgt ein frustrierender erster Stadtrundgang: Das Viertel besteht als Altbauten, die vorwiegend halbgeschossig zur Straße angelegt sind, d.h. man muss stets eine halbe Treppe rauf oder runter, um sie zu betreten.
Mit knurrenden Mägen schleichen wir an ein, zwei Dutzend Restaurants vorbei, aus deren Kellereingängen es verlockend duftet. Um draußen zu essen, ist es uns zu windig. Dann, die Erlösung in Form dieser Rampe:

Wir taumeln durch die Tür und werden sofort vom zuvorkommenden Personal umsorgt. Die Speisen klingen fantastisch: Norwegisches Hummer-Carpaccio; Ricotta-Gnocchi an Enoki-Pilzen; Steinbuttfilet an Fenchel-Ravioli – und die Preise liegen gerade noch unter der Schmerzgrenze.

Aus einem Reflex heraus frage ich die Bedienung, wie groß denn die Portionen seien, denn wir hätten reichlich Appetit. Sie verzieht schmerzlich das Gesicht und sagt, sie rate den Gästen stets, mindestens drei oder vier Gänge zu bestellen und vielleicht vorneweg noch etwas Brot zu essen …

Zack, die Budget-Schmerzgrenze wird pulverisiert. Wir begreifen endlich, dass an der Decke nicht umsonst Kronleuchter hängen – wir sind in eines der edelsten Häuser der Stadt gestolpert. Wir entscheiden, dass wir heute Abend nicht aufs Geld schauen, und bestellen alle schonmal einen zweiten Gang und ein Dessert.

Die Portionen sind tatsächlich winzig. Dafür sind wir uns einig, dass wir wohl noch nie so exquisit gegessen haben. Flow führt uns in die Kunst des meditativen Kauens ein: Man schließt die Augen und kaut einen kleinen Bissen so lange, bis man seine gesamte Geschmacksdimension erfasst hat oder im eigenen Speichel zu ertrinken droht. Schnüpi und ich sind begeistert, was man alles schmeckt, wenn man die Speisen nicht einfach runterschlingt, und so wird der kostspielige Abend zu einer bewusstseinserweiternden Erfahrung.

Historische Ausflugsziele

An historischen Stätten trifft man selten auf Rampen und Fahrstühle. Auch die Wege sind kaum asphaltiert, sondern bestehen aus Pflaster, Kies oder Gras. Wenn man als Rollifahrer damit Mühe hat, sollte man vorher anrufen, wie zugänglich das Ausflugsziel überhaupt ist.

Im Mittelalterdorf Nykøbing waren wir überrascht, wie clever der Themenpark geplant war, um einerseits rollstuhlgängig zu sein und anderseits authentisch zu wirken. Dies ist eher die Ausnahme. Ich stelle mich bei solchen Ausflügen oft bewusst darauf ein, dass nicht alles klappen wird, und lasse mich dann lieber positiv überraschen.

An Orten wie diesen lohnt es sich besonders, eine Klapprampe dabei zu haben, mit der man kleinere Hindernisse überwinden kann.

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