Wir stoßen ins Landesinnere vor und besuchen die Universitätsstadt Lund. Danach suchen wir nach einem typisch schwedischen Dorf und sind etwas geschockt, als wir es finden. Auch unser Vorsatz, traditionelle schonische Küche auf dem Lande zu probieren, nimmt ein unerwartetes Ende in einem Sushi-Schuppen.
Voller Tatendrang studieren Schnüpi, Flow und ich während dem Frühstück die Schwedenkarte. Wir verzichten bewusst auf den Reiseführer, denn wir wollen nicht in eine Touristenfalle gelotst werden, sondern das echte, ungeschminkte Schweden sehen.
Die Ortsnamen regen allesamt die Fantasie an: Snogeröd, Sjunnerup, Hammarlunda – vor dem geistigen Auge sehen wir in diesen Dörfern rotwangige Kinder herumtollen und zipfelmützige Männer Holz hacken. Wir legen uns schließlich auf einen Ort namens Bosjöklostare fest, denn ‚bo’ bedeutet Wohnen, ‚sjö‘ heißt See und ‚klostare‘ muss ein Kloster sein, also wird es da wohl erstens Leute geben, zweitens kann man dem Wasser entlang flanieren und drittens ein altes Gemäuer erkunden.
Um den Übergang von Stadt zu Land etwas abzufedern, legen wir vorerst aber einen Zwischenhalt in Lund ein, denn Rezeptionist Adam hat uns das empfohlen, und Adam wusste noch stets, was gut für uns ist. Auf Bosjöklostare angesprochen hat er übrigens kurz gezögert und dann bloß gesagt: „Ich kenne es nicht, aber es ist sicher schön da.“
Lund ist eine ruhige, saubere Kleinstadt. Sie ist bekannt für den Dom, die Universität und das gerichtsmedizinische Institut, das in den Wallander-Krimis immer erwähnt wird. Lund beeindruckt uns reihum: Ich freue mich über den barrierefreien Bahnhof mit den modernen Niederflurzügen, die selbständiges Reisen für Rollstuhlfahrer ermöglichen. Schnüpi ist begeistert vom Dom und seiner antiken Uhr, die neben Jahreszeiten und Sternzeichen auch die Feiertage aller Heiligen anzeigt (im Bild: ein Modell des Doms zum Ertasten für Menschen mit Sehbehinderung). Und Flow schwelgt im Park vor dem Dom, wo eine Entenfamilie zwischen mystischen Dolmen spazieren geht.
Nun aber raus aufs Land! Wir geben Bosjöklostare ins Navi ein, und da wir keine Adresse angeben können, wählen wir einfach ‚Zentrum‘ als Ziel. Wir fahren durch die südschwedische Landschaft, durch Mohnfelder und Laubwälder. Die Straße führt hier nicht von Dorfkern zu Dorfkern wie bei uns meistens, sondern einfach quer durchs Land, mit kleineren Häusergruppen in der Ferne. Vielleicht hätten wir an dieser Stelle schon misstrauisch werden können, dass das kulturelle Konzept eines Dorfes in Schweden anders funktioniert als bei uns.
Das Navi zeigt an, es sei nur noch zwei Kilometer bis ins Zentrum von Bosjöklostare. Wir recken die Hälse auf der Suche nach Dorf, See und Kloster, und tatsächlich zeigt ein Wegweiser rechts zur Klosteranlage. Wir fahren weiter und nehmen uns vor, am Dorfplatz zu parken und zum Kloster zu spazieren. Noch 1000 Meter – keine Häuser in Sicht. Noch 500 Meter – rechts und links bloß Wald. 200 Meter, 100 Meter, dann sagt das Navi: „Sie haben das Ziel erreicht.“ Unser Auto kommt auf der einsamen Landstraße zum Stehen, nirgends ein Haus, nirgends ein See.
Perplex sitzen wir da. Irgendwann brechen wir den Bann und fluchen ausgiebig über das Navi, und als ein Auto hinter uns auftaucht, fahren wir weiter. Wir erkunden noch zwei Kilometer Straße mit Wald, dann wenden wir und fahren zurück zum Kloster.
Bildquelle: https://www.bosjokloster.se/
Das Kloster hat einen Streichelzoo und einen Golfplatz mit Restaurant, das jedoch geschlossen hat. Wir stapfen ein bisschen durch die Gegend und hoffen, hinter einer Biegung doch noch ein idyllisches Dorf aufzuspüren. Doch da ist nix, und auch der See hinter dem Kloster ist nicht mit einem Weg erschlossen. Wir begreifen, dass Bosjöklostare als Dorf schlicht nicht existiert. Enttäuscht beschließen wir, aufs Geratewohl weiterzufahren, denn wir haben uns den Ausflug anders vorgestellt, und einer von uns kann sich mit bestem Willen nicht mehr für die Klosterbesichtigung motivieren.
Wie auf dem Titelbild des Beitrags zu sehen ist (klicke hier für Großansicht), liegen mehrere Ortschaften rund um die zwei kleinen Seen. Wir fahren also entschlossen weiter nach Sätofta, denn dort wird es ja wohl einen Zugang zum See und mit etwas Glück gar ein schmuckes Restaurant haben? Weit gefehlt! Die Fahrt durch Sätofta ist eine der beklemmendsten Erfahrungen, die ich je gemacht habe. Zu einem Dorf gehören für mich einige grundlegende Dinge: Ein Dorfplatz, ein Laden, eine Gaststätte, ein Verwaltungsgebäude, oder im Minimum ein paar Abfalleimer und eine öffentliche Toilette. Das alles finden wir in Sätofta nicht. Das Unheimlichste aber ist, dass wir nirgendwo Menschen sehen. Hinter niedrigen Hecken liegen zwar kleine Häuser, doch auch dort ist kein Zeichen von Leben auszumachen.
Wo sind all die Leute? Wo kaufen sie ein? Wo treffen sie sich auf ein Bier? Und warum ist es so still hier, sind wir in einem Gruselfilm gelandet, wo jeden Moment nuklear verseuchte Zombies aus den Wäldern wanken? Wir wenden und verlassen die Seenlandschaft fluchtartig gen Südwesten. Die Mohnfelder helfen uns, den Puls runterzufahren.
Wir zoomen auf dem Navi ganz weit rein, damit wir Details der Ortschaften erkennen können, etwa Schulen, Restaurants und Einkaufsmöglichkeiten. Es fällt auf, dass es in Schweden einfacher ist, einen Golfplatz oder eine Hundepension zu finden, als einen Landgasthof. Dafür hat der Räucherfischladen in der Pampa, wo wir Pause machen, eine picobello Rampe für Rollstuhlfahrer – verrückte Welt!
Bei Eslöv wagen wir nochmals einen Versuch. Eslöv ist mit knapp 20’000 Einwohnern zwar kein wirkliches Dorf mehr, aber darüber blicken wir nach der gruseligen Sätofta-Erfahrung gnädig hinweg. Wir wollen die örtliche Küche probieren und suchen nach einem schwedischen Lokal. Nach einem Döner, einem Thai, zwei Sushis und einer Pizzeria finden wir ein schonisches Restaurant: Es steht leer und die Räumlichkeiten sind zur Vermietung ausgeschrieben – nur das Türschild zeugt davon, dass man hier einst ‚varmrökt lax‘ (warmgeräucherten Lachs) essen konnte.
Wir gehen ins Sushi und essen für einen Betrag à discretion, für den man in der Schweiz gerade mal die Vorspeisensuppe erhielte. Das Buffet ist von 17-21 Uhr ausgeschrieben, doch um sieben sind wir bereits die Einzigen, die noch essen. Das Restaurant wird von einem asiatischen Paar betrieben, das sich hingebungsvoll um uns kümmert. Sie sprechen asia-schwedisch (also schwedisch mit viel Akzent und noch mehr Gestik), und so knapp können wir uns mit ihnen verständigen.
Um halb acht merken wir, dass ihre Freundlichkeit eine unterschwellige Note von ‚geht jetzt, wir wollen schließen‘ annimmt. Sie begleiten uns zur Tür und sagen ständig „tack så mycket“ (vielen Dank). Wir versichern ihnen, dass wir das Essen sehr genossen haben und geben reichlich Trinkgeld. „Tack så mycket, tack, tack“, sagen sie im Chor und halten demonstrativ die Tür auf. „Tack, tack“, rufen sie ein letztes Mal, dann – Tschack – schlagen sie die Tür hinter uns zu. Wir winken zum Abschied; sie winken zurück und drehen das Türschild auf Geschlossen.
Das schwedische Dorf
In Schweden sieht das Dorfleben grundlegend anders aus als in der Schweiz. Man wohnt und arbeitet vorwiegend in Kleinstädten wie Eslöv und fährt dann am Wochenende in eine Feriensiedlung wie Sätofta, die unter der Woche wie ausgestorben wirkt.
Die Lebensmittel nimmt man von zuhause oder aus der Stadt mit und versorgt sich zusätzlich durch Jagd und Anglerei selbst. Man trifft Freunde seltener in der Öffentlichkeit, sondern lädt sie zu sich nach Hause ein – entsprechend fehlt oft die bei uns obligatorische Dorfkneipe. Das Einzige, was die Schweden an Geselligkeit und Infrastruktur nicht missen möchten, ist ein nahegelegener Golfplatz.
Auch der Bezug zur Landschaft ist unterschiedlich. Bei uns wird ein See rundum verbaut oder als Naherholungsgebiet genutzt. Im flächenmäßig viel größeren Schweden ist so ein einzelner See jedoch nichts Besonderes, darum gibt es nicht überall einen Spazierweg, wie wir das erwartet hätten.