Ein böses Erwachen und ein heikler Ausrutscher prägen die erste Hälfte des Tages, ehe wir beschließen, einen radikalen Neuanfang zu wagen. Wir flüchten über die Öresundbrücke und erholen uns in der freien Natur. In Malmö erleben wir einen Empfang, den wir uns niemals hätten erträumen können.
Der Tag beginnt mit einer Frage: Sind das Ziegel- oder Backsteine, die man hier in Kopenhagen in die Matratzen stopft? Schnüpi und ich sind völlig gerädert. Wir schelten uns dafür, dass wir das Zimmer gestern nicht besser in Augenschein genommen haben: Das ‚barrierefreie‘ Zimmer hat nicht nur Betonmatratzen, es ist auch so klein, dass man die Tür nicht mehr schließen kann, wenn der Rollstuhl neben dem Bett steht. Flows Zimmer ist sogar noch kleiner und erinnert uns an die berüchtigten Schlafkojen an japanischen Bahnhöfen.
Wir tragen den Frust runter an die Rezeption und bitten darum, die zweite Nacht zu stornieren. „Natürlich dürfen Sie abreisen“, heißt es dort, „aber Sie müssen trotzdem den vollen Preis für die beiden Zimmer bezahlen.“ Ich schaffe es gerade so knapp, keinen cholerischen Anfall zu kriegen. Dafür wird mein Gesicht so rot wie die Ecken der dänischen Flagge, als ich mit gepresster Stimme erkläre, was man normalerweise unter einem barrierefreien Zimmer versteht.
Die Rollstuhl-Keule wirkt: Mit völlig verändertem Wesen storniert die Rezeptionistin die zweite Nacht und entschuldigt sich tausendmal. Wir gehen packen und staunen nicht schlecht, als wir neben dem Lift ein Dutzend frisch angelieferter Matratzen an der Wand lehnen sehen. Sie fühlen sich himmlisch weich an – offenbar ist das Matratzenproblem seit einer Weile bekannt.
Wir essen Frühstück in einem Straßencafé und wägen unsere Optionen ab: Suchen wir ein neues Hotel in Kopenhagen, oder fahren wir schon einen Tag früher nach Malmö? Wir vertagen die Entscheidung und spazieren zum nahegelegenen Königspark.
Kopenhagen ist ein raues Pflaster für mich. Der Boden ist im gesamten Viertel etwa so wie in der Hamburger Speicherstadt, und meine angeschlagene Laune wird mit jedem Holperer mieser. An manchen Stellen hat es Fahrrinnen, die knapp zu schmal sind, als dass ich sie nutzen könnte, und als wir den Park erreichen, bin ich mächtig sauer auf diese Stadt.
Ich reiße mich zusammen, um meinen botanisch interessierten Begleitern nicht die Freude am Park zu vermiesen. Auf dem Steg beim königlichen Karpfenteich lade ich meinen Frust bei den Fischen ab. Ich zische ihnen Verwünschungen zu, die sie definitiv nicht verdient haben. Als ich mich abrupt von den Fischen abwende, schickt mir das Karma einen Warnschuss: Mein Hinterrad schrammt über den Rand des Stegs.
Der Steg hat zwar ein Geländer, aber ob es das Gewicht meines Rollstuhl halten könnte, ist unklar. Wie knapp ich einem dummen und gefährlichen Unfall entgangen bin, begreife ich erst, als ich Flows Gesicht sehe: Es ist so weiß wie das Kreuz der dänischen Flagge, womit wir mit dem Wappen – und dem Land insgesamt – durch sind.
Wir beschließen, unsere Zelte abzubrechen. Obwohl wir noch nicht einmal das Wahrzeichen der Stadt, die kleine Meerjungfrau, gesehen haben, kehren wir Kopenhagen den Rücken. Und der Gedanke, jetzt schon nach Schweden zu fahren, wirkt so befreiend, dass ich im Parkhaus eine Runde Rollstuhl-Limbo einlege:
Wir fahren über die Öresundbrücke nach Schweden und finden einen Parkplatz ganz nahe am Meer. Befreit spazieren wir dem Wasser entlang und unter der Brücke hindurch. Wir geraten in die atemberaubende Natur und sehen einen Hasenbau, ein scheues Reh und massenhaft Vögel, die sich auf Steinen offensichtlich wohler fühlen als ich.
An einem Aussichtspunkt machen wir Rast. Ich muss dringend pinkeln, doch wir wollen noch nicht in die Zivilisation zurückkehren, um ein Rolli-WC zu suchen. Also postiert sich Flow so, dass er allfällige Jogger abfangen kann, während Schnüpi und ich die größte Rollstuhltoilette der Welt benutzen: das Meer. Wir essen die letzten Zweifel-Chips, die uns noch mit der Schweiz verbinden, und danach fühlen wir uns so richtig bereit für Schweden.
Malmö beeindruckt uns von der ersten Minute an: Die Stadt ist schön und sauber, und die anderen Autofahrer winken einem an den Kreuzungen zu, anstatt zu hupen, wie es jenseits der Brücke noch der Fall gewesen ist. Im Hotel sagen wir keck, wir seien schon einen Tag früher da als geplant, ob das okay sei. Der freundliche Rezeptionist stellt sich als Adam vor und erklärt, das könne man einrichten. Wir fragen nach einem gutem Restaurant, und Adam denkt von alleine daran, uns nur rollstuhlgängige Lokale vorzuschlagen, was ich ihm hoch anrechne.
Wir drehen eine kurze Runde durch die Stadt. Alle paar Ecken treffen wir auf LWKs voller feiernder Studenten, die sich genauso über unsere Ankunft zu freuen scheinen wie wir. Das Video ist etwas verwackelt, weil Schnüpi ihre Begeisterung kaum zügeln kann:
Adam klärt uns später auf, dass in Südschweden der Schulabschluss (quasi die Matura) so gefeiert werde, und dass das leider nichts mit uns zu tun habe. Aber er selbst freue sich dafür umso mehr, dass wir hier seien. Wir stellen eine erste kulturelle Eigenart der Schweden fest: Dinge, die bei uns schleimerisch klingen würden, wirken bei den Schweden authentisch und nett, sodass wir Adam allesamt ins Herz schließen.
Wir lassen den Tag in der Hotelbar ausklingen. Wir treffen auf einen geselligen jungen Schweden namens Victor, mit dem wir ausgiebig trinken und plaudern. Dabei geschieht etwas, das noch weit in den nächsten Tag hinein Auswirkungen haben wird.
Krimi-Tipp: „Die Brücke – Transit in den Tod“
Mitten auf der Öresundbrücke (über die wir heute gefahren sind) wird eine Leiche gefunden: Ihr Oberkörper liegt in Schweden, der Unterleib in Dänemark. Martin Rohde, dänischer Polizist und Lebemann muss mit Saga Norén, einer schwedischen Kommissarin mit autistischen Zügen, die Ermittlungen leiten. Der Fall wird nicht nur durch den ungleichen Charakter der beiden Ermittler, sondern auch durch das Gewirr internationaler Zuständigkeiten erschwert. Und im Hintergrund zieht ein perfider Täter die Fäden, der den beiden Ermittlern immer einen Schritt voraus zu sein scheint.
„Die Brücke“ ist eine Ko-Produktion des schwedischen, dänischen und deutschen Fernsehens. Es wurden vier Staffeln gedreht, von denen jede in mehreren Folgen einen spannenden Kriminalfall behandelt. Die Serie ist auf DVD erhältlich oder kann auf Netflix gestreamt werden.
Hallo Martin
Kannst du noch etwas über eure Eindrücke der Oeresundbrücke erzählen?
Zunächst einmal ist sie sehr, sehr lang zum Drüberfahren. Von Kopenhagener Seite fährt man zuerst durch ein Industriegebiet und einen langen Tunnel, sodass man noch keine gute Aussicht hat. Dann aber kommt man ins Freie und fährt kilometerweit ‚übers Meer‘, was schon recht eindrücklich ist. In der Ferne sieht man Dutzende von Windrädern durch den Nebel.
Es hat mehrere Fahrspuren, und man kommt schnell vorwärts. Auf schwedischer Seite ist man etwas ausserhalb der Stadt, mit viel Natur drumherum. Die Brücke ist dort ins Naherholungsgebiet eingebunden, mit vielen Joggern, Hündelern und Velofahrern.
Hoi Heiner!
Ja, auf die Öresund-Brücke und ganz speziell aufs über-die-Brücke-Fahren haben wir uns ganz besonders gefreut! Eigentlich wollten wie die Sommerferien ja in England verbringen, aber nachdem wir die Krimiserie „die Brücke“ gesehen haben, in der die zwei Ermittler da pro Folge mehrmals zwischen Kopenhagen und Malmö „gschwind“ hin- und her fahren, und wir dann auch noch einen Schwedisch-Kurs angefangen haben, führte eins zum anderen, und wir waren Feuer und Flamme für die Überfahrt 🙂
Ganz so zackig ging es vor allem wegen des Staus auf Kopenhagener Seite nicht, obwohl es ein Dienstag war (nicht etwa ein Freitag, wo man vielleicht früher Feierabend macht…), aber es hatte extrem viele Baustellen in Kopenhagen und auf dem ganzen Weg durch Agglomeration und Industriegebiet ebenfalls. Erst auf der Brücke konnte dann richtig Fahrt aufkommen, dort hatte es aber plötzlich richtig viel Platz!
Am Meisten beeindruckt hat uns aber fast mehr die Aussicht zur Brücke, als das Drüberfahren – denn man hat viel länger etwas davon. Hier vor allem auch, von wie weit entfernt man sie sieht – vom südlichsten Zipfel Schwedens, wo wir in einem nachgebauten Wikingerdorf waren, bis zur Skybar in Trelleborg konnten wir die typische Silhouette der Brücke (die eben auch das Logo der Krimiserie ist), sehen. (15 -25 km?) Jedes Mal konnten wir uns wieder darüber freuen, dass wir den eigentlichen „Grund“ für unsere Anreise vor Augen hatten.
Das Wetter war übrigens immer wieder sehr sonnig, obwohl es auf den Fotos ziemlich bedeckt und bewölkt aussieht, deshalb habe ich auch den Sonnenhut dabei.