Wir machen uns auf den langen Weg nach Hause und bewältigen die erste Etappe von Warnemünde nach Hannover. Dort hätten wir zwar große Pläne gehabt, doch der Verkehr macht uns einen Strich durch die Rechnung. Immerhin reicht es für einen Spaziergang um einen besonderen See, der direkt neben unserem Hotel liegt.
Es ist paradox: Eigentlich sind wir alle müde und sehnen uns nach der vertrauten Matratze zuhause. Trotzdem fällt es uns schwer, zu akzeptieren, dass sich die Reise dem Ende zuneigt. Darum wollen wir die verbleibende Zeit noch optimal nutzen. Heute führt unser Weg nach Hannover, und wir brechen früh in Warnemünde auf, damit wir nach der Fahrt noch etwas vom Tag übrig haben.
Leider haben wir die Rechnung ohne die deutsche Autobahn gemacht, die wie schon bei der Hinfahrt ihren skurrilen Humor beweist: Mehrmals geraten wir in lange Staus, weil alle Fahrzeuge von drei auf zwei Spuren wechseln müssen. Dann quetschen sich die Autos an einem mit Hütchen abgesperrten Bereich von dreißig Metern Länge vorbei, der weder bearbeitet wird noch sonst irgendwie unbefahrbar wirkt, und dann geht’s wieder auf drei Spuren weiter. Echt jetzt, das versteht doch wirklich niemand.
Irgendwo zwischen zwei Baustellen sammeln wir unbewusst ein Souvenir, das uns einige Wochen später in den Briefkasten flattern wird: ein körniges Bild von Schnüpi, zusammen mit einem streng formulierten Bußgeldbescheid. Da wir schon auf dem Weg nach Norden einmal geblitzt worden sind, können wir nun wenigstens ein spannendes Vorher-Nachher-Ratespiel veranstalten. Welches der beiden Fotos stammt also von der Hin- und welches von der Rückreise? Es darf in den Kommentaren gerne ein Tipp abgegeben werden. Die Auflösung gibt es nächste Woche.
Auch Hannover selbst leidet an diesem Nachmittag an einer üblen Verstopfung: Für die fünf Kilometer von der Autobahnausfahrt zum Hotel brauchen wir vierzig Minuten. Immerhin hat es direkt vor dem Eingang einen Rolliparkplatz – und es passt zum Tag, dass er uns weggeschnappt wird, als wir ihn gerade ansteuern wollen. Wir fahren auf einen Taxistand, um mich und das Gepäck auszuladen, dann stürzt sich Schnüpi zurück in die Verkehrsflut, um einen Parkplatz zu suchen.
Während Flow schonmal das Gepäck reinträgt, fahre ich aus Neugier an dem besetzten Rolliparkplatz vorbei und spähe ins Auto. Die zwei Frauen darin – beide tippen auf dem Handy rum – sehen nicht nach Gehbehinderung aus, aber das ist manchmal schwer einzuschätzen. Aussagekräftiger ist ihre schuldbewusste Miene, als sie mich entdecken und krampfhaft in die andere Richtung gucken. Da ich auf Schnüpi warten muss und nichts Besseres zu tun habe, fahre ich drei-, viermal an dem Auto mit den zwei Frauen vorbei, bis es ihnen so unangenehm wird, dass sie davonfahren.
Wir beziehen die Zimmer und erleben Schlag auf Schlag die nächste rollstuhlbezogene Fettnäpfchen-Episode. Auf dem Tisch des barrierefreien Zimmers steht dieses Willkommenskärtchen:
„Ihr persönlicher Jogging-Stadtplan“, steht auf dem Kärtchen, das in diesem Zimmer wohl zur Mehrheit von Menschen mit Rollstuhl gelesen wird. Wir amüsieren uns prächtig über die Gedankenlosigkeit, die dahintersteckt.
Wir haben gehofft, spätestens um drei Uhr in Hannover zu sein und noch Zeit für einen Museumsbesuch oder eine andere Aktivität zu finden. Nun ist es aber bereits zehn nach fünf, und wir können das knicken. Etwas ratlos greifen wir nach dem Kärtchen mit den Joggingrouten und studieren die Umgebung des Hotels. Direkt hinter dem Gebäude liegt der Maschsee, ein künstlich angelegter Binnensee zur Naherholung. Den steuern wir nun an.
Leider machen wir dabei keine Aufnahmen vom See für unser Bildarchiv. Unter diesem Link können dafür einige Fotos des Tourismusportals von Hannover betrachtet werden: https://www.visit-hannover.com/Sehenswürdigkeiten-Stadttouren/Sightseeing/Sehenswürdigkeiten/Maschsee
Der Maschsee wurde in den Dreißigerjahren unter der Ägide der Nationalsozialistischen Partei angelegt. Man wollte damit die Hochwassergefahr durch die Ihme (ein Nebenfluss der Leine) eindämmen und ein Naherholungsgebiet mit Schwerpunkt Wassersport schaffen. Des Weiteren passte das Projekt in Hitlers politische Strategie der Arbeitsbeschaffung.
Wir flanieren dem kerzengeraden See entlang und genießen die Abendstimmung. Dabei stoßen wir auf das Detlef-Zinke-Haus, eine mietbare Event-Location. Hier veranstaltet u.a. ein Verein namens Rollstuhl-Sportgemeinschaft Hannover Sportanlässe für Rollifahrer.
Schnüpi neckt mich mit dem Vorschlag, wir könnten doch den nächsten Urlaub hier verbringen und mich alle diese Sportarten ausprobieren lassen, worauf ich etwas blass um die Nase werde. Wir beenden den Spaziergang in einem Restaurant und lassen den letzten Abend der Reise gemütlich ausklingen.
Empfindlichkeiten und Vorurteile
Unbefugt besetzte Rolliparkplätze sind ein Ärgernis, keine Frage. Darüber kann man sich nach einem mühsamen Tag schon mal aufregen. Meist steckt aber kein böser Wille dahinter – und wir haben ja auch den Taxiparkplatz zum Ausladen genutzt, obwohl wir das nicht hätten tun dürfen.
Auch das Kärtchen im Hotel habe ich vorschnell als Gedankenlosigkeit abgetan, obwohl wir nachher froh um den kleinen Stadtplan waren. Wer weiß, vielleicht wären nebst Joggingrouten sogar die Angebote zum Rollstuhlsport darin verzeichnet gewesen, wenn wir genauer hingeschaut hätten.
Man wird als Behinderter oft das Ziel von Vorurteilen. Aber Vorurteile können auch in die Gegenrichtung wirken, dessen sollte man sich ab und zu bewusst werden.
Schade, dass die Reise bald zu Ende geht. Ich denke, die linke Foti war auf der Hinfahrt und die rechte auf der Rückfahrt. Laura sieht dort weniger ängstlich aus. So meine Interpretation.
Liebe Grüsse
Edith