Wir fahren von der Hamburger Alster auf die dänische Insel Falster. Die Schilder am Straßenrand wechseln von ‚frische Fische‘ zu ‚friske fiske‘. Und die Dänen heißen uns mit skurrilem Humor und ungewohnten Gesetzen willkommen, sodass wir an unserem ersten Tag im Norden zweimal verarscht und einmal straffällig werden.
Wir werden besser mit früh Aufstehen: Diesmal dauert es nur noch gut zwei Stunden vom Bett zum Auto. Das erste Etappenziel ist Puttgarden, wo wir die Fähre nach Rødby nehmen. Als Rollstuhlfahrzeug erhält man am Ticketschalter einen grellen pinken Zettel, den man hinter die Windschutzscheibe klemmt: Als die Autokolonne auf die Fähre zurollt, werden wir dank des Zettels in eine separate Spur gelotst und düsen den anderen davon.
Die Rollstuhl-Spur endet an der rechten Wand im Schiffsbauch, in der Nähe des Lifts. Unglücklicherweise reichen uns die zwei Minuten Vorsprung auf die anderen Autos nicht zum Ausladen, und so wird der Weg zum Lift nach allen Regeln der Kunst zugeparkt, bevor wir dort sind. Es folgt ein Spießrutenlauf an Kotflügeln und Stoßstangen entlang: Flow navigiert mich im Zickzack durch die Blechlawine und stoppt den Fahrer eines schief stehenden Autos gerade noch rechtzeitig, bevor der das Parkdeck verlässt, und lässt ihn besser parken, sodass ich den Lift doch noch erreiche.
Von Rødby aus dauert es nur 40 Minuten bis zum unserem Tagesziel: Die Stadt Nykøbing am Guldborgsund auf Falster. Unser Hotel wurde bei den telefonischen Recherchen sogar von der Konkurrenz als das einzige barrierefreie Hotel der Insel angepriesen, und so müssen wir damit leben, dass es gut zwei Kilometer außerhalb des Stadtkerns liegt. Dafür hat es sogar eine Rampe zur Raucher-Lounge.
Es folgt der erste Akt dänischen Humors: Wir erkundigen uns an der Rezeption nach einem Bus ins Zentrum, da wir das Auto für einmal gerne stehen lassen möchten. „Bus? Nein, sowas gibt es hier nicht“, antwortet die Rezeptionistin mit ernster Miene und in fließendem Deutsch. Na gut, dann gehen wir eben zu Fuß. Ob sie denn ein Restaurant empfehlen könne? „Heute ist Sonntag, da hat alles zu außer unserem Hotelrestaurant. Außerdem gibt es in ganz Nykøbing nur zwei Restaurants und ein Café.“
Etwas perplex bedanken wir uns, machen uns auf den langen Fußmarsch und fragen uns, in was für einem Nest wir denn hier gelandet sind. Wir kommen keine hundert Meter weit, da stehen wir an einer Bushaltestelle und starren den Rücklichtern jenes Busses ins Zentrum hinterher, den es laut der Rezeptionistin nicht gibt.
Der Stadtkern ist größer als erwartet, allerdings wirkt er tatsächlich sonntäglich ausgestorben. Nykøbing gefällt uns gut – es hat einen schwer zu fassenden ‚Shabby-Charme’:
Wir kommen an mindestens fünf Restaurants vorbei, von denen zwei am Abend offen hätten, aber nicht rollstuhlgängig sind. Wieder fragen wir uns, ob die Rezeptionistin ein gestörtes Verhältnis zu ihrem Job pflegt, oder ob wir es hier mit einer besonderen Form der Ironie zu tun haben.
Irgendwann treffen wir sogar auf Menschen: Sie kaufen ein in einem Supermarkt, der auch sonntags offen hat. Wir schlendern durch die Regalreihen, bestaunen die fremden Produkte und kaufen uns je eine Dose dänisches Bier. Mit neuem Elan setzen wir den Spaziergang fort.
Auf zum zweiten Akt! Wir kommen an eine öffentliche WC-Anlage. Die Dänen scheinen tatsächlich ein humoristisches Volk zu sein: Wo bei uns die ewig gleichen drei Piktogramme prangen, hat Nykøbing dies:
Wir grinsen, freuen uns über den lockeren Lebensstil hier und nehmen einen langen Zug aus der Bierdose. Als wir um die Ecke biegen, hängt dort eine riesige Verbotstafel: ‚Alkohol trinken in der Öffentlichkeit bei Strafe untersagt! Bußgeld und Anzeige bei Zuwiderhandlung.‘ Wir schlucken leer und stopfen die Dosen tief in den nächsten Abfalleimer.
Als der Hunger Überhand nimmt, suchen wir nach einem Restaurant. Auf Anhieb finden wir einen Pizza-Kebab-Laden, der sein Geld vor allem mit Lieferservice verdient, aber trotzdem ein paar einladende Tische hat.
Die beiden Türken, die das Restaurant betreiben, schauen immer wieder an unserem Tisch vorbei – wir sind die einzigen Gäste, obwohl das Essen super ist. Hinter dem Tresen tuscheln sie dann fasziniert, und es wird uns irgendwann klar, dass sie noch nie einen Gast im E-Rollstuhl hatten.
Nach dem Essen laden uns die beiden zu einem Verdauungsschnaps ein (Gammel Dansk – empfehlenswert!) und wir kommen mit ihnen ins Gespräch. Sie stellen sich als Ahmed und Alexandre vor, und wir wundern uns schon ein wenig über den nicht gerade urtürkischen Namen des Jüngeren.
Während Ahmed nur Dänisch spricht, hat Alexandre einige Jahre in Malmö gelebt und spricht darum ein wenig Schwedisch. Schnüpi und ich spüren, dass dies der Moment ist, auf den uns das Leben im Allgemeinen und die Migros-Klubschule im Besonderen vorbereitet haben. Wir krempeln die Ärmel hoch, und nach einer zweiten Runde Gammel Dansk perlt uns das Schwedisch nur so über die Lippen.
Ahmed und Alexandre haben Fragen. Viele Fragen. Mehr Fragen, als wir mit unseren kläglichen paar Wörtern bewältigen können, vor allem, weil es komplexe Fragen sind, wie etwa über das Sozialsystem der Schweiz oder Liebesbeziehungen zwischen Rollstuhlfahrern und Fußgängern. Da wird aus Flow dann mangels Wortschatz halt mein ‚Freund und Diener‘ statt meinem Pflegeassistenten, und aus Schnüpi ‚meine Frau‘ statt meiner Freundin.
Unter dem Strich verstehen wir uns zwar sprachlich nicht so wirklich, aber menschlich dafür umso besser. Wir erfahren, dass Ahmed drei Söhne hat: Mohammed, Mikael und Benjamin. Er hat bewusst jedem einen Namen aus einer unterschiedlichen Weltreligion gegeben, um Toleranz zu demonstrieren. Und Alexandre vertraut uns beim emotionalen Abschied an, er heiße übrigens gar nicht Alexandre (wer hätte das gedacht!), sondern Hasan. Wir dürften ihn gerne Hassi nennen. Türkisch-dänischer Humor zum Dritten!
Kulturelle Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung
So, wie man als Weißer in Johannesburg nicht gefahrlos jedes Viertel betreten kann oder als westlich gekleidete Frau in Saudi-Arabien Anfeindungen erlebt, so kann je nach Reisedestination auch ein Rollstuhl ungewohnte Reaktionen provozieren. Man sollte im Hinterkopf behalten, dass Inklusion nicht überall ein anerkanntes Prinzip ist.
Die meisten Effekte sind harmlos: Unverhohlene Neugier, übersteigerte Hilfsbereitschaft, mitleidige Kopftätschler oder verniedlichende Wangenkneifer kann man wegstecken, wenn man will. Es ist eine Chance für beide Seiten, den Horizont zu erweitern und hinter den Vorurteilen und den kulturellen Barrieren den jeweils anderen Menschen zu entdecken. So, wie es uns mit Ahmed und Hasan gelungen ist.
Heikler wird es, wenn man fälschlicherweise glaubt, als Rollstuhlfahrer sei man tabu für Diebstähle oder Überfälle. Diese Art von Schutz ist nicht in jeder Kultur gleich stark verankert. Darum: Je exotischer das Reiseziel, desto mehr sollte man im Vorfeld recherchieren.